Augenblick
Ewig war ich jetzt schon unterwegs. Vor circa zwei Stunden bog ich auf diese Straße ab, die ich zwar nicht kannte, die aber eine Abkürzung zu sein schien. Seitdem sehe ich nur noch Wälder und Felsen, die links und rechts von der Straße herauf ragen. Ich weiß nicht mehr, wann mir das letzte Auto entgegenkam. Jetzt war es schon spät und mir wurde klar, dass ich es heute nicht mehr bis nach Hause schaffen würde. Es fiel mir schwer, mich noch wach zu halten. Das Radio hatte hier keinen Empfang und Kassetten hatte ich nicht mitgenommen. Ich musste einen Platz zum Übernachten finden und wie es der Zufall so wollte, sah ich plötzlich ein Schild, welches auf ein Hotel in wenigen Kilometern Entfernung hinwies.
Kurz darauf, in einer engen Kurve einer steilen Bergabfahrt, war es dann direkt am Straßenrand. Das Hotel bestand aus zwei Gebäuden, das eine war groß und reichte bis in die Felswand hinein, das andere stand ein paar Meter daneben und war viel kleiner. Ich bremste und bog langsam in die Einfahrt. Zwischen den beiden Häusern hing ein Schild am Fels mit der Aufschrift „Parkplatz“, aber es hatten maximal zwei PKW dort Platz. Glücklicherweise schien ich aber der einzige Gast in jener Nacht zu sein.
Ich stellte den Wagen ab und ging zum Eingang. Drinnen brannte noch Licht, wenn auch nicht viel. Bei genauerem Anblick des Gebäudes kamen mir aber Zweifel. Es wirkte doch sehr viel heruntergekommener als beim ersten Blick. Dann sah ich ein Schild über der Türe. „Hotel Augenblick“ war in das stark verwitterte Holz graviert. Ich drehte mich nochmal um, aber am anderen Haus war kein Schild, doch es sah genau so alt aus. Vorsichtig näherte ich mich und versuchte, durch die Gläser in der Tür zu schauen, doch nur das Flackern von Kerzenschein war zu erkennen.
Nach kurzem Zögern klopfte ich zwei Mal an die Tür, da ich keine Glocke fand. Doch es gab keine Reaktion. Ich drückte also auf gut Glück die Klinke hinunter und die Tür öffnete sich tatsächlich. Langsam trat ich in den dunklen Raum und schloss leise die Tür wieder hinter mir. Außer der Kerze, die auf einem Tisch am anderen Ende des Raum stand, konnte ich nichts erkennen. Also ging ich zu ihr hin, um mich mit ihr weiter umschauen zu können.
„Willkommen im Hotel Augenblick.“, hörte ich plötzlich eine ältere Frau hinter mir sagen, als ich gerade nach der Kerze greifen wollte.
Erschreckt drehte ich mich um und sah zwei Gestalten an der Rezeption, die ich wohl beim Eintreten übersehen haben muss. Eine der beiden kramte ein paar Streichhölzer unter der Theke hervor und zündete eine weitere Kerze an.
„Oh, entschuldigen Sie mich, ich habe Sie gar nicht gesehen.“, sagte ich, als ich mich den beiden näherte.
Es waren ein alter Mann und eine genau so alte Frau, die dort nebeneinander standen und mich nun anschauten.
„Wer die Dunkelheit nicht gewohnt ist, sucht immer nur nach dem Licht.“, sagte der Mann.
„Wie dem auch sei, sie sehen aus als bräuchten sie ein Zimmer.“, antworte die Frau darauf.
„Oh, ähm, ja, dringend sogar. Haben sie noch eins frei?“, fragte ich, obwohl ich natürlich wusste, dass eigentlich alle frei sein mussten, da außer meinem kein Auto draußen stand.
Die alte Frau musste schmunzeln: „Junger Mann, in den fast vierzig Jahren, in denen ich und mein Mann dieses Hotel betreiben, gab es noch nie eine Nacht, in der alle Zimmer belegt waren. Seien sie versichert, hier gibt es immer ein Bett für sie zum schlafen.“
Ihr Mann sagte nichts mehr und starrte mich nur an. Sein Blick war schwer einzuordnen, aber er wirkte dennoch bedrohlich.
„Dann würde ich gerne eines haben.“
„Das freut mich, sie bekommen die Nummer 14, das hat den schönsten Blick aufs Tal.“
„Danke, aber dafür werde ich wohl keine Zeit haben, ich muss morgen wieder früh los.“
„Und was ist mit dem Frühstück? Wir haben keinen extra Raum dafür, daher würden sie es auf ihr Zimmer bekommen.“
„Ich esse morgens eigentlich nie was, aber ein starker Kaffee kann bestimmt nicht schaden. Ist ihnen sechs Uhr auch nicht zu früh?“
„Das ist kein Problem für mich, den Kaffee bekommen Sie.“
„Danke, wie viel bekommen sie?“
„15 Mark, hier der Schlüssel. Nummer 14 ist im zweiten Stock die Treppen hoch sind, dann einfach weiter gerade aus.“
Ich gab ihr das Geld, nahm den Schlüssel und verabschiedete mich. Der alte Mann hatte immer noch nichts gesagt und schaute mich nur weiter an. Ich ging also in Richtung der Treppe, die neben dem Tisch mit der Kerze war. Auf der dritten Stufe sagte er dann doch noch etwas:
„Eines noch. Halten sie sich von Nummer 08 fern.“
„Keine Angst, ich möchte nur Schlafen.“, antwortete ich und machte mir keine weiteren Gedanken über seine Worte.
In meinem Zimmer angekommen überraschte mich die Einrichtung trotz meiner bereits geringen Erwartungen. Ein Bett und ein kleines Schränkchen daneben mit einer Kerze darauf waren alles, was das Zimmer bot. Nicht einmal ein Vorhang hing am Fenster. Aber ich wollte nur schlafen und morgen so schnell wie möglich nach Hause.
Doch kurz nachdem ich mich hingelegt hatte, fielen mir die Worte des Alten wieder ein. Was war mit Zimmer 08? Was war dort geschehen? Es klang fast wie eine Drohung oder Warnung. Plötzlich hörte ich draußen Schritte. Ich ging zum Fenster und schaute nach unten auf den Parkplatz, wo mein Auto stand. Das alte Ehepaar schien hinüber zu dem anderen Haus zu laufen, vermutlich wohnten sie dort selbst. Ich wartete bis sie es betreten hatte und griff mir meine Schlüssel, um mein Zimmer wieder kurz zu verlassen. Denn das war jetzt meine Gelegenheit um meiner Neugier ein Ende zu bereiten.
In dem Schrank war eine Packung Streichhölzer, mit denen ich die Kerze entzündete und diese mitnahm. Ich ging Tür für Tür ab. Erst kam Nummer 12, dann Nummer 10 und dann dort, wo auf der Tür 08 stehen sollte, war kein Schild und die Tür war mit mehreren Brettern vernagelt. Doch das steigerte mein Interesse nur noch weiter. Ich wollte nicht anklopfen, das hätte ich mich verraten können. Also ging ich in die Knie und blickte durch das Schlüsselloch.
Es war noch jemand im Hotel. Ich war, entgegen meiner Annahme, nicht der einzige Gast. Eine Frau mit langen Haaren stand dort am Fenster, welches genau gegenüber der Tür war. Sie trug ein langes weißes Kleid und starrte hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Wie war sie in das Zimmer gekommen? Wurde sie eingesperrt? Ich entschied mich, morgen die alte Frau zu fragen, da ich jetzt wirklich zu müde war und morgen doch früh losfahren wollte.
Zurück in meinem Bett war ich mir sicher, dass es eine logische Erklärung für Zimmer 08 geben würde. Die Frau konnte ja nicht aus ihrem Zimmer heraus. Vielleicht habe ich mir das auch alles nur wegen meiner Müdigkeit eingebildet.
Doch mein Schlaf hielt nicht lange. Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich von einem lauten Schrei geweckt. Es klang nach einer Frau und ich war mir sicher, er kam aus dem verbarrikadierten Zimmer. Nun packte mich aber doch die Angst. Ich wollte nachschauen und gleichzeitig wollte ich auch einfach nur von hier verschwinden. Also packte ich meinen ganzen Mut zusammen und stand noch einmal auf. Vielleicht brauchte die Frau meine Hilfe?
Ich ging also wieder mit meiner Kerze den Gang hinunter zu Zimmer 08 und klopfte gegen die Türe.
„Ist alles in Ordnung bei ihnen?“, fragte ich, doch bekam keine Antwort.
Wieder ging ich in die Knie und schaute durch das Schlüsselloch. Doch ich sah nichts, keine Frau, kein Fenster und kein Zimmer. Es war komplett schwarz, finsterer als die Nacht draußen. Nur einen leicht rötlichen Schein konnte ich ausmachen, der einmal um mein Blickfeld zu hängen schien. Jetzt reichte es mir. Ich brauchte endlich Schlaf, sonst würde ich noch verrückt werden. Zurück in meinem Zimmer stellte ich nochmal sicher, dass meine Türe auch wirklich abgeschlossen war, bevor ich mich wieder hinlegte und die Augen schloss.
Plötzlich klopfte es an meine Tür. Draußen ging gerade die Sonne auf. Ich muss wohl wieder eingeschlafen sein. Es klopfte ein weiteres Mal.
„Ich bringe ihnen ihren Kaffee.“, rief die alte Frau durch die Türe.
Schnell zog ich mich an und ließ sie herein.
„Hier bitteschön. Trinken Sie in Ruhe und kommen Sie runter, wenn sie fertig sind.“, sagte sie und dann war sie auch schon wieder weg.
Ich wusste nicht, wie lange ich wirklich geschlafen hatte, aber lange war es bestimmt nicht. Doch es musste wohl reichen. Während ich den Kaffee trank, hatte ich doch noch Zeit den Ausblick zu genießen. Unten im Tal schien eine kleine Stadt zu sein und wenn ich mich nicht täuschte, dann kam mir der Kirchturm bekannt vor. Es konnte also aller Ansicht nach nicht mehr weit bis Zuhause sein.
Motiviert stieg ich also die Treppen hinunter in die Lobby, wo das alte Ehepaar schon auf mich wartete. Erst als ich den Blick des Mannes wieder sah, fielen mir die Ereignisse der letzten Nacht wieder ein.
„Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Aufenthalt.“, sagte die Frau freundlich, doch ich war mir sicher, dass man mir ansehen konnte, dass ich nicht viel geschlafen hatte.
„Alles gut.“, antwortete ich, „Aber ich hätte da jetzt doch noch eine Frage.“
„Nur zu, junger Mann.“
„Was hat es mit Zimmer 08 auf sich? Ich habe gesehen, dass es verbarrikadiert ist.“
„Sie sollten sich davon fern halten!“, brüllte mich der Alte plötzlich an, so laut er in seinem Alter noch konnte.
„Hören Sie, auf dem Weg zu meinem Zimmer kam ich daran vorbei, das konnte ich nicht vermeiden.“
„Kommen Sie kurz mit.“, sagte die Frau zu mir und begleitete mich zu dem Tisch in der Empfangshalle.
„Wissen Sie, mein Mann ist da etwas abergläubisch.“
„Was meinen sie?“, fragte ich verwirrt.
„Nun, in Zimmer 08 geschah vor vielen Jahren eine schreckliche Tragödie und ich glaube, er hat das immer noch nicht ganz verarbeitet.“
„Tut mir leid, ich kann ihnen noch nicht ganz folgen.“
„Nun, wie soll ich das sagen, es… es gab dort einen Mord. Ein junger Mann, vielleicht etwas älter als sie, ermordete dort seine Frau.“
„Das ist ja schrecklich.“, antwortete ich und versuchte, der Angst, die sich in mir breit machte, Einhalt zu gebieten.
„Ja, und wir konnten das Hotel nicht schließen, wir haben sonst ja nichts. Außerdem ist es eine Art Tradition meiner Familie und die möchte ich natürlich nicht beenden.“
„Verständlich.“
„Aber, und da kommt mein Mann ins Spiel, danach berichteten uns immer wieder Gäste, sie hätten eine Frau gesehen und er glaubt ihnen das natürlich.
Auf meiner Stirn häuften sich jetzt die Schweißperlen. Meine Müdigkeit war verschwunden und mein Herz raste.
„W-wie beschrieben sie die Frau?“, stotterte ich und bekam schon fast keine Luft mehr.
„Da stimmen die Berichte der Gäste meist überein, sie trägt ein langes, weißes Kleid. Aber viel schlimmer sollen ihre Augen sein.“
Hier unterbrach sie kurz. Sie blickte rüber zu ihrem Mann, der mich jetzt mit einem “Ich hab’s dir doch gesagt“-Blick anschaute. Sie lehnte sich etwas über den Tisch zu mir herüber und sagte:
„Sie sind schwarz. Schwärzer als alles, was sie je gesehen haben. Und damit nich genung. Um sie herum leuchtet ein Schein, so rot wie Blut.“
© Chads
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