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  Lisa - Kapitel 1: Wer ist Lisa? 11.08.2025 07:27 (UTC)
   
 

Lisa

Kapitel 1: Wer ist Lisa?

Lisa, ihr Name war bei mir hängen geblieben. Lisa, das Mädchen meiner Träume. Zumindest dieses einen Traumes. Oft habe ich schon geträumt, auch von Mädchen, aber nie war es so gewesen wie mit Lisa. Ich kannte keine Lisa, zumindest nicht mehr seit dem Kindergarten, aber die sah anders aus. Meine Traum-Lisa war etwas besonderes, noch nie hatte ich so ein Mädchen gesehen. Ihr Gesicht war etwas kleiner als der Durchschnitt, doch ihr Lächeln zog mich in seinen Bann wie nie ein anderes zuvor. Nur das außergewöhnlichste war das noch nicht. Viel bemerkenswerter waren nämlich ihre Haare. Ihr Gesicht war umrahmt von den rotesten Haaren die ich je erblicken durfte. So voller Farbe, so voller Feuer, so unfassbar leuchtend rot, wie es kein Haarfärbemittel der Welt je erreichen würde, selbst wenn man alle auf einmal nehmen würde. Doch es waren keineswegs lange Haare, denn sie gingen nicht einmal bis zu ihren Schultern. Leicht gelockt hingen sie herunter und halb über ihr rechtes Auge. Und obwohl ich mich sicher bin, so ein Mädchen noch nie gesehen zu haben, kam sie mir auf irgendeine Weise bekannt vor. Wer ist Lisa?

Dienstag, 8:03 Uhr

Gedanklich abwesend klopfe ich zwei Mal leicht an die Türe des Klassenzimmers, denn eigentlich bin ich ganz wo anders.

„Wer ist da?", ruft eine Stimme von drinnen.

„Ja.", antworte ich.

„Was 'ja'?"

„Was? Ich mein Jack, lassen sie mich bitte herein.", sage ich als ich wieder im hier und jetzt ankomme.

Herr Gölz öffnet die Türe und schaut mich leicht genervt an.

„Und, warum kommst du heute zu spät?"

„Ich hab' meinen Bus verpasst, muss verschlafen haben."

„Dann stell dir gefälligst einen weiteren Wecker beziehungsweise überhaupt mal einen, sonst bekommst du für dein dauerndes Zuspätkommen noch einmal richtig Ärger. Denn wenn...", er hält denselben Vortrag wie immer.

Als er damit fertig ist, sitze ich schon auf meinem Platz und habe meine Sachen ausgepackt, die eigentlich nur aus einem karierten Block und ein paar Losen Stiften in einer Federmappe bestehen.

„Hey Jack, ich hab' dich aber vorhin im Bus gesehen, du hast ihn doch gar nicht verpasst!", ruft Kirstin plötzlich aus der letzten Reihe. Herr Gölz gönnt mir einen kurzen Moment um nachzudenken und fragt dann: „Was hast du dazu zu sagen?"

„Ähm hab ich gesagt den Bus verpasst? Ich meinte die Haltestelle, die Haltestelle hier vor der Schule hab' ich verpennt und bin dann erst an der Nächsten raus, welche leider erst am Bahnhof war. Und da ich dann von dort aus laufen musste, habe ich es nicht rechtzeitig geschafft.", halte ich ihm entgegen.

Er geht nicht weiter darauf ein und murmelt nur ein "Was soll nur aus dem werden?" vor sich hin. Aber ich weiß gar nicht was der hat, meine Noten sind befriedigend und sonst falle ich auch nicht weiter negativ auf. Nur meine Gedankenversunkenheit macht heute selbst mir Sorgen. Ich wäre noch weiter mit dem Bus gefahren, wenn der Fahrer mich nicht rausgeschmissen hätte, weil die Linie zu Ende war.

Lisa ist das Einzige das mich heute beschäftigt. Wie besessen gehe ich alle Mädchen die ich kenne durch, selbst wenn ich sie nur von einem Profilbild aus dem Internet kenne. Aber keine sieht auch nur ansatzweise so aus wie Lisa. Aber warum kommt sie mir dann so bekannt vor? Selbst wenn ich mich nur auf die Gesichtszüge beschränke, fällt mir niemand ein, der ihr ähnlich sieht.

Irgendwo zwischen Gedankenverlorenheit und dafür Ärger zu bekommen klingelt dann endlich die Schulglocke. Erschreckt stelle ich aber fest, dass lediglich die erste Stunde vorbei ist und noch fünf weitere, mindestens genauso spannende folgen, bis zur Mittagspause.

13:37 Uhr

Mein bester Freund ist heute leider krank weshalb ich alleine durch die überfüllte Innenstadt laufe. Es ist Markt und überall drängen sich die Leute zu den Ständen bevor sie schließen. Irgendwann heute Morgen habe ich beschlossen, ein Bild von Lisa zu zeichnen, um es mir leichter im Gedächtnis zu behalten. Ich setze mich an den großen Brunnen am Marktplatz und ziehe meinen Block aus meiner Tasche, die ich heute ausnahmsweise mit in die Pause genommen habe. Dazu noch zwei Stifte aus meinem Mäppchen: Einen feinen Bleistift und ein dicken roten Holzstift. Mehr brauche ich nicht. Und mehr beherrsche ich auch nicht. Denn schon nach den ersten paar Strichen fällt mir wieder ein, dass ich überhaupt nicht zeichnen kann. Jedes Kindergartenkind würde mich auslachen, wenn es sehen könnte, was ich hier zusammen kritzle. Aber davon lasse ich mich nicht aufhalten und male unbeirrt weiter.

Als es fertig ist, betrachte ich das fragwürdige Kunstwerk und bin doch überrascht von mir. So schlecht wie es jetzt aussieht habe ich es nicht erwartet. Aber es muss ja keiner zu Gesicht bekommen. Zum Glück sind hier nicht dutzende Menschen um mich herum, die mich wahrscheinlich alle heimlich beobachtet haben und deshalb so gut drauf sind und dauernd kichern. Doch dann kommt mir ein viel besserer Gedanke: Was, wenn Lisa hier ist?

Sein könnte es durchaus, ich sehe hier viele Menschen die ich meist nur unbewusst wahrnehme und vielleicht hat sich der Traum in diesem Speicher einfach bedient. Doch egal wie sehr ich mich umschaue und komische Blicke ernte weil ich die Leute so anstarre, Lisa wird nicht realer als das Bild von ihr in meiner Hand. Und als die Glocken im nahegelegenen Kirchturm erklingen wird mir bewusst, dass ich meine ganze Mittagspause mit der Jagd nach einem Mädchen aus meinem Traum verschwendet habe.

16:16

Ich konnte mich während den letzten Schulstunden einigermaßen konzentrieren. Irgendwie konnte ich mich von dieser Spinnerei befreien indem ich mir vorstellte, was andere von mir denken müssen, wenn ich es ihnen erzähle. Wie verzweifelt ich sein muss, um diesem Hirngespinst eine Chance zu geben. Doch als ich sie zeichnete hatte ich das Gefühl, sie würde mit jedem Strich ein Stück realer werden, dass jeder Strich sie näher zu mir bringt. Aber so etwas passiert doch nur in Filmen.

Als es klingelt packe ich enttäuscht meine Sachen zusammen. Was für ein verschwendeter Tag. Ich habe nicht wirklich was gelernt und bin Lisa keinen Schritt näher gekommen. Mit gesenktem Kopf verlasse ich das Schulgebäude in Richtung der Bushaltestelle. Ohne es mir wirklich eingestehen zu wollen schaue ich die andere, die neben und vor mir laufen, wieder genau an, um nicht vielleicht doch noch auf Lisa zu stoßen. Aber warum sollte das Mädchen meiner Träume zufälligerweise auch noch ausgerechnet auf meine Schule gehen?

Ich seufze einmal laut. Es ist hoffnungslos. Ich bin hoffnungslos. Es muss einen Weg geben, sie wieder zu vergessen. Plötzlich rennt jemand an mir vorbei und rempelt mich dabei.

„Pass doch auf!", rufe ich der Person hinterher. Sie versteckt sich unter einem Kapuzenpulli, dabei ist es dafür eigentlich viel zu warm. Außerdem trägt sie eine Umhängetasche mit verschiedensten Buttons darauf.

„Sorry!", ruft die Person, als sie sich kurz umdreht und ein paar Schritte rückwärts geht. Die Person ist ein Mädchen. Von hinten hätte man das nicht erkannt, aber die Stimme macht es eindeutig. Ich will gerade wieder auf den Boden schauen, als ich merke, dass sie ach gar nicht mehr umdreht. Also hebe ich meinen Kopf wieder und schaue in das Gesicht, dass sich unter der Kapuze verstecken möchte. Wie gelähmt, aber immer noch laufend, starren wir uns beide an und sagen nichts.

„B-bist du's?", stottere ich nach einer gefühlten Ewigkeit heraus. Doch noch bevor ich mit der Frage fertig bin, dreht sie sich wieder um und rennt davon. Aber für einen ganz kurzen Moment, der aber letztlich mehr als lang genug war, rutsch ihre Kapuze nach hinten und offenbart eine leuchtend rote Haarsträhne. Es ist Lisa.

Zuhause angekommen schmeiße ich meine Tasche auf mein Bett und suche meinen Schulbericht. Darin sind Fotos und Namen von allen Klassen und Schülern. Hektisch blättere ich ihn durch. Sie wirkte auf keinen Fall älter als ich, sie ist maximal gleich alt oder eher noch jünger. Aber da ich eigentlich jeden aus meiner Stufe kenne, muss sie eine darunter sein. Doch bei den zehnten Klassen finde ich keine Mädchen mit roten Haaren. Und wenn sie beim Foto auch die Kapuze auf hatte? Das ist zwar eher ungewöhnlich, aber das kann ich mir bei ihr durchaus vorstellen. Da! Tatsächlich, sie versteckt ihre Haare, steht ganz am Rand und schaut nicht mal in die Kamera. Lisa Rose.

Mittwoch, 1:40 Uhr

Wie erwartet kann ich nicht einschlafen, dabei wünsche ich mir eigentlich im Moment nichts mehr als das. Ich hoffe, Lisa so wieder sehen zu können, um mehr über sie herauszufinden. Aber ich bin zu aufgeregt. Unablässig muss ich an sie denken und versuche zu verstehen, warum sie in meinem Traum war. Zufall oder Schicksal? Das gilt es heute in der Schule zu klären.

10:44 Uhr

Mathe fällt aus und wir haben zwei Freistunden. Zusammen mit zwei Kumpels sitze ich im Aufenthaltsraum und bereite ein Gespräch vor. Ich will sie wegen Lisa fragen, habe aber etwas Angst vor ihren Gegenfragen. Doch mein Drang nach einer Antwort ist zu groß.

„Hey, Leute, das ist jetzt 'ne komische Frage, aber habt ihr schon mal von Lisa geträumt?", frage ich mitten in die kleine Runde.

„Alter, was?!", antwortet Andy und muss laut lachen.

Ich verdrehe die Augen. Genau diese Reaktion habe ich von ihm erwartet.

„Wer ist Lisa?", fragt Benny zurück und kämpft damit, sein Lachen zurück zu halten.

„Ach, nicht so wichtig, war nur so ne Frage.", antworte ich und will das Gespräch eigentlich schon wieder aufgeben.

„Ja, is' klar. Gib's zu, du bist verknallt!", ruft Andy durch den Raum, sodass es alle anderen Anwesenden auch hören.

Auch ohne mich umzuschauen spüre ich die ganzen Blicke, die plötzlich auf uns gerichtet sind. Jetzt hört jeder genau hin, denn beim verbreiten von Gerüchen will jeder der Erste sein.

„Andy, komm runter, ich glaube, er meint das ernst.", flüstert Benny, der mir bestimmt meinen enttäuschend Blick ansieht, „Hat diese Lisa zufällig rote Haare?"

Ich zucke zusammen. Er kennt sie. Er weiß tatsächlich wen ich meine.

„Ja, du hast also auch...?"

„Ich habe nie darüber geredet, weil irgendwie fand ich das peinlich. Ich mein, sie geht auf unsere Schule, aber keiner kennt sie. Und dann träum ich auch noch von der? Ne, das wollte ich für mich behalten.", erzählt Benny.

„Hat dich nie interessiert, warum sie in deinem Traum war?", frage ich aufgeregt.

„Gibt es dafür Gründe? Das ist doch immer nur Zufall sowas.", antwortet er trocken.

„Alter, was seid ihr denn für welche? Träumt von so einer komischen Außenseiterin und-"

„Du etwa nicht?", unterbricht ihn Benny.

„Ich? Ha! Also... naja, vielleicht einmal, hab nicht sehr auf ihre Haare geachtet, aber sie passt auf eure Beschreibung."

„Das macht das ganze nur noch mysteriöser.", murmele ich vor mich hin, „Ich sollte sie darauf ansprechen."

„Hey,", sagt Benny und greift nach meinem Arm, „ tu das nicht. Du wirst genauso ausgegrenzt wie sie wenn du mit ihr redest. Du weißt wie unsere Stufe da ist."

„Das hält mich nicht auf. Vielleicht kann ich sie auch wieder besser integrieren? Vielleicht braucht sie einfach nur einen Freund, der zu ihr hält. Außerdem brauch ich diese Stufe eh nicht, ich habe ja dann noch euch, oder?"

„Auf uns kannst du zählen. Aber lass es uns wissen, wenn du irgendetwas rausfindest."

"Geht klar."

13:06

Heute ist keine Mittagsschule, aber dennoch kann ich Lisa und ihren Kapuzenpulli nirgendwo auf dem Weg zum Bus finden. Da ich diesen aber nicht verpassen möchte, kann ich mich nicht lang mit der Suche nach ihr beschäftigen. Auf der Fahrt nach Hause krame ich mein Handy aus der Hosentasche. Wenn ich sie heute schon nicht sehen konnte, vielleicht finde ich dann wenigstens noch etwas über sie heraus. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Stalker. Doch wie eigentlich erwartet finde ich nichts auf Facebook. Wenn sie dort angemeldet ist, dann unter falschem Namen. Aber auch in anderen sozialen Netzwerken und selbst bei Google findet sich kein Beweis für ihre Existenz. Das Internet scheint sie noch nicht zu kennen.

Montag

Letzte Woche passierte nichts mehr. Lisa war wie vom Erdboden verschluckt. Doch am Wochenende nutzte ich die Gelegenheit um den Kontakt zu einer alten Freundin aufzufrischen, die ihn Lisa Klasse geht. Sie erzählte mir, das Lisa die ganze letzte Woche im Unterricht war, aber in den Pausen immer sofort verschwand. Es konnte aber auch daran gelegen haben, dass es niemanden interessierte, was sie machte. Was mich aber fast noch mehr überraschte war die Tatsache, dass Lisa wohl eine der Besten in der Klasse, nur ihre Mitarbeit zog sie herunter. Obwohl sie immer abwesend schien, beherrschte sie den Stoff in den Klassenarbeiten perfekt, doch sie machte sich nie viel daraus.

13:01

Als es zur Mittagspause klingelt eile ich so schnell es geht aus dem Klassenzimmer und stelle mich an die Straße gegenüber der Schule. Von hier aus kann ich jeden sehen, der die Gebäude in Richtung Stadt und Mittagspause verlässt. Nach und nach strömen tausende Schüler an mir vorbei und ich versuche dabei wie wild jeden einzelnen genau anzuschauen. Doch nach fast einer Viertelstunde kommen mir nur noch Lehrer entgegen und Lisa bleibt weiterhin unentdeckt. Das heißt, sie muss noch hier sein.

Mit schnellem Schritt eile ich durch die Gänge der Schule, vorbei an der Bücherei, dem Atrium und den Aufenthaltsräumen, doch leider erfolglos. Es ist sinnlos, sie ist weg. Irgendwie ist sie mir immer einen Schritt voraus. Erst jetzt fällt mir auf, wie sehr ich mich in die Sache rein gesteigert habe, wie ich völlig verrückt einem Mädchen hinterher renne, das ich nicht kenne. Und wenn ich sie mir das alles nur eingebildet habe? Aber dann fällt mein Blick auf den Stillarbeitsraum und seine Glasfront. Drinnen sitz, an einem Sandwich knabbernd und in einem Buch lesend, das Mädchen meiner Träume.

Sofort gefriert mein Körper zu Eis. Keine Bewegung und kein Geräusch. Wie eine Schaufensterpuppe stehe ich da und beobachte Lisa. Sie scheint mich noch nicht bemerkt zu haben. In ihrem Augenwinkel müsste sie mich eigentlich sehen, aber sie scheint zu vertieft in das Buch zu sein. Ganz langsam, ohne hektische oder ausfallende Bewegungen, nähere ich mich der Holztür. Das ist meine Chance, jetzt stelle ich sie zur Rede. Hier kann sie nicht fliehen, der einzige Ausgang ist diese Türe. Ich warte einen Moment, atme tief durch, drücke die Klinke, trete ein und sehe einen leeren Raum.

Was ist denn jetzt los? Drehe ich völlig durch? Wo ist sie hin? Ich durchsuche den gesamten Raum, aber finde nichts was auf sie hindeutet. Auch die Fenster sind noch geschlossen und da wir im zweiten Stock sind, wäre das auch kein guter Fluchtweg gewesen. Bei dem Gedanken kommt mir der Vergleich mit dem Stalker wieder in denn Sinn. Vielleicht hätte ich mal berücksichtigen sollen, wie sich dabei fühlt. Irgend so ein Fremder verfolgt sie plötzlich völlig grundlos. Ich verstehe auch, warum sie im Stillarbeitsraum war. Den nutzt so gut wie niemand, nur die Lehrer kürzen hier zum angrenzenden Gebäude ab.

Doch langsam zweifle ich zunehmend an meinem Geisteszustand. Ich habe sie gesehen, andere haben sie gesehen, es gibt Fotos von ihr, sie erscheint in Träumen und kann aus verschlossenen Räumen verschwinden. Wer bist du Lisa?

16:23

Da vorne ist sie! Diese Kapuze erkenne ich selbst auf diese Entfernung, so sehr hat sich der Anblick damals in mein Gedächtnis gebrannt. Doch heute rennt sie nicht zum Bus wie beim letzten Mal, heute schlendert sie ganz gemütlich zur Bushaltestelle. Wenn ich mich richtig erinnere, müsste sie ihren schon verpasst haben. Ob sie das mit Absicht gemacht hat? Geht sie mir so aus dem Weg? Vorsichtig gehe ich ihr hinterher und versuche dabei, mich ihr zu nähern.

Plötzlich bleibt Lisa stehen und dreht sich zu Straße hin. Sofort mache ich einen Sprung zur Seite, um nicht in ihr Blickfeld zu gelangen. Jetzt gilt es nichts zu überstürzen. Laut Plan habe ich noch elf Minuten bis ihr nächster Bus kommt. Komm Jack, das ist vielleicht deine letzte Chance. Langsam nähere ich mich ihr von hinten, doch atme dabei so tief ein und wieder aus, dass sie es hört und vermutlich sogar durch den Pulli gespürt hat. Erschreckt dreht sie sich um und schaut geschockt zu mir hoch. Ihre roten Haare leuchten unter der Kapuze hervor.

„Halt dich fern von mir!", schreit sie mir plötzlich ins Gesicht und beginnt sofort davon zu laufen.

„Aber ich möchte dir helfen!", rufe ich ihr nach einem kurzen Moment des Schrecks hinterher.

„Ich brauch' deine Hilfe nicht!", antwortet Lisa und dreht sich nicht einmal mehr dafür um.

Sie verschwindet hinter einem Busch und lässt mich hier stehen. Plötzlich bricht von allen Seiten Gelächter auf mich herein. Bestimmt hundert Schüler stehen hier noch und alle haben die Szene eben mitbekommen. Doch das ist mir egal, endlich habe ich ihre zarte, wenn auch leicht aufgebrachte, Stimme vernommen.

Dienstag

„Es tut mir Leid, Lisa. Ich möchte nur einmal mit dir reden, danach lasse ich dich in Ruhe wenn du möchtest. Bitte gib mir diese eine Chance. Jack

Diese Nachricht habe ich ihr auf einem Zettel im Stillarbeitsraum hinterlassen. Das ist mein letzter Versuch, wenn sie darauf nicht reagiert, sollte ich es lassen. Es ist nur Zeitverschwendung. Meine Aktion von gestern verbreitete sich heute rasend schnell, geriet aber auch genau so schnell wieder in Vergessenheit weil weder mich noch Lisa viele kannten oder interessierten. Doch als ich am Ende des Tages wieder alleine im Bus sitze, ohne eine Nachricht von Lisa, bin ich wieder ganz am Anfang.

Mittwoch, 9:24 Uhr

Aus reiner Neugier gehe ich heute in der großen Pause in den Stillarbeitsraum. Durch die Fenster erkenne ich, dass der Zettel immer noch auf dem Stuhl liegt. Anscheinend war Lisa gestern nicht hier. Wahrscheinlich kommt sie gar nicht mehr her, nachdem sie hier einmal fast getroffen hätte. Ich kann es ihr nicht übel nehmen. Um mich vor weiteren Peinlichkeiten zu bewahren, entscheide ich, den Zettel wieder mitzunehmen, bevor ihn noch jemand anderes findet. Ohne wirklichen Grund öffne ich das gefaltete Stück Papier nochmal. Vielleicht, um mir meine verzweifelten Worte ein weiteres Mal durchzulesen. Doch zu meinem Erstaunen steht dort etwas Neues geschrieben: „Mittwochmittag nach der Schule hier.“

13:05

Meinen Bus werde ich verpassen, so viel ist klar. Aber das ist es mir auf jeden Fall wert. Ich hoffe nur, dass mir hier niemand einen Streich spielt. Die Nachricht hätte von jedem stammen können. Mit den Händen in den Hosentaschen stehe ich am Fenster. Heute regnet es. Heute hat Lisas Kapuzenpulli einen Sinn. Der Stillarbeitsraum hat seinen Namen wirklich verdient. Nur die  Tropfen, die ununterbrochen gegen die Scheibe prallen, geben einen leisen Ton von sich. Jede Sekunde die vergeht fühlt sich ewig an. Wann kommt sie endlich? Kommt sie überhaupt? Was fragst du als erstes? Solche und weitere Fragen schießen mir durch den Kopf, nur die Antworten finde ich nicht. Dann höre ich die Tür hinter mir. Jemand kommt herein. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen, obwohl ich es will.

„Nicht bewegen.“, sagt eine Stimme, die ich sofort als Lisas ausmachen kann.

Ich antworte nichts, aber kann hören, wie sie sich mir langsam nähert.

„Was weißt du über mich?", fragt sie.

„Gar nichts, außer deinem Namen."

Ich versuche ruhig zu bleiben, doch lange wird mir das nicht mehr gelingen. Irgendwie versuche ich, eine Spiegelung von ihr im Fenster zu entdecken, aber sie muss sich direkt hinter mir aufgestellt haben.

„Warum verfolgst du mich dann?", fragt sie weiter und wird deutlich aggressiver.

„Weil...", beginne ich meine Antwort, überlege mir dann aber kurz meine nächsten Worte, „ich von dir geträumt habe?"

Hoffentlich war das die richtige Antwort. Vielleicht bin jetzt aber auch als Freak und Stalker bei ihr unten durch.

„Natürlich hast du das.", reagiert sie darauf und auf irgendeine Art klingt sie genervt. „Sonst nichts?"

„N-Nein, wirklich nicht!", sage ich verwirrt, weil dieses Gespräch ganz anders verläuft als von mir erwartet und erhofft.

Sie setzt sich hin und seufzt einmal laut. Noch immer stehe ich mit dem Rücken zu ihr da und muss dem Regen draußen zu schauen.

„Ich... ich möchte dir helfen.", flüstere ich leise und hoffe, dass sie es trotzdem hört.

„Ja, komm, du wiederholst dich. Erzähl mir was neues.", sagt sie ganz trocken. „Was für eine Zeitverschwendung...", fügt sie noch fast unhörbar hinzu.

„Ähm, darf ich mich umdrehen?", frage ich, als könnte sie mir so etwas verbieten.

„Du, tu was du willst. Hast du bisher ja auch."

Ganz vorsichtig, als könnte etwas passieren, drehe ich mich also um und sehe vor mir ihre Kapuze sitzen. Ich gehe einmal um den großen Tisch herum und setze mich ihr gegenüber.

„Das ist deine Chance. Rede."

„Hör zu, Lisa, ich möchte dir helfen und-"

„Hast du kein Kurzzeitgedächtnis oder so? Das sagst du jetzt schon zum dritten Mal", unterbricht sie mich und steht auf in Richtung der Türe.

„Lisa, warte!", rufe ich ihr hinterher, aber sie geht weiter.

So bringt es nichts, ich muss meine Strategie wechseln. Direkter Angriff.

„Warum habe ich von dir geträumt?", sage ich ganz selbstbewusst, als wäre mir klar, dass dies die richtige Frage war. Und tatsächlich unterbricht sie ihren Gang und lässt die Türklinke wieder los.

„Du hast vorher so genervt darauf reagiert, hörst du das etwa öfter?"

Sie dreht sich wieder zu mir her und sagt:„Das geht dich nichts an."

Ihr ernster Ton macht es nur noch mysteriöser.

„Jetzt hör mir bitte zu, Lisa, und lauf nicht sofort wieder weg. Ok?"

Sie sagt nichts und verschränkt nur ihre Arme.

„Ich möchte dir helfen. Ganz offensichtlich hast du ein Problem, dass dich zur Außenseiterin macht. Oder viel eher noch hast du ein Problem mit dir und machst das von selbst, weil niemand irgendetwas über dich weiß, wegen dem er dich ausgrenzen sollte. Also Lisa, bitte lass mich dir helfen. Ich bin zwar auch nicht das beste Beispiel für Beliebtheit, aber bei mir ist es lang nicht so extrem wie bei dir. Was sagst du?"

Dann Stille. Mit erwartungsvollem Blick schaue ich in ihre Kapuze, doch ich kann kaum etwas erkennen. Sie ist viel zu weit ins Gesicht gezogen und außerdem ist es hier drin nicht gerade hell. Plötzlich dreht sie sich um und beginnt, mit der Stirn zuerst leicht, dann immer härter, gegen die Tür zu hauen.

„Lisa? Was ist?", frage ich verwundert und stehe auf.

Ich gehe um den Tisch herum auf sie zu und greife mit meinem Arm nach ihrer Schulter.

„Fass' mich nicht an!", brüllt sie plötzlich los und stößt die Tür auf.

Noch bevor ich etwas sagen kann, rennt sie schon die Treppen hinunter und wahrscheinlich aus dem Gebäude. Sie weint, das habe ich gehört. Aber wieso?

Donnerstag

Gestern Abend habe ich mir noch lange den Kopf darüber zerbrochen, wieso Lisa so reagiert. Irgendwann gab ich es aber auf und konnte einschlafen, da ich mittlerweile auch nicht mehr damit rechne, nochmal von ihr zu träumen. Doch wie soll es jetzt weiter gehen? Ich denke, ich sollte ihr etwas Bedenkzeit geben, der nächste Schritt sollte und muss von ihr kommen.

14:02

Es ist Mittagspause und ich sitze mit meinen zwei Kumpels vor der Schule. Ich erzähle ihnen, was gestern mit Lisa und mir passiert ist. Sie sind erstaunt darüber, dass ich ihr so nahe gekommen bin, aber sind gleichzeitig auch der Meinung, dass das das Limit ist. Und gerade als ich beginne, dass auch zu glauben, kommt plötzlich Lisa aus dem Gebäude vor uns heraus und steuert direkt auf uns zu.

„Hey, Jack, da ist sie! Meinst du sie kommt her?"

„Sicher nicht so lange ihr beide noch hier seid."

„Du sagst also, wir sollen gehen?"

„Ja, ich erzähle euch nachher was passiert ist."

„Ernsthaft, Jack?"

„Da, seht ihr, wie traut sich nicht näher."

„Geh doch du zu ihr, wenn sie dir so wichtig ist."

Ich sage nichts mehr und stehe auf. Ohne mich nochmal umzudrehen oder mich zu verabschieden gehe ich auf Lisa zu. Dieses Mal halte ich aber etwas Abstand zu ihr, sie scheint nämlich nicht gerade auf körperliche Nähe zu stehen. Wieder steht sie da mit ihrem gesenkten Kopf und die Kapuze bis weit ins Gesicht gezogen.

„Hey, ähm, geht's dir gut?", frage ich sie schüchtern.

Doch statt zu antworten zeigt nur mit dem Finger auf mich und dann auf ein weiter Schulgebäude, nämlich das mit dem Stillarbeitsraum. Ich nicke kurz und beginne dann, ihr hinterher zu laufen.

Ist das der Durchbruch? Habe ich es geschafft? Oder zieht sie jetzt wieder irgendeine komische Aktion ab? Zu meiner Verwunderung gehen wir nämlich an dem Raum vorbei und stattdessen weiter sie Treppe hinauf. Aber über uns sind nur noch Klassenzimmer, in denen die Unterstufe teilweise schon wieder Unterricht hat. Aber ich sage nichts. Ich vertraue darauf, dass sie weiß was sie da tut.

Schließlich kommen wir am obersten Zimmer an. Es ist ein Musikzimmer und besonders Schallisoliert. Außerdem ist es wie alle anderen Zimmer von außen nicht mehr zu öffnen ohne Schlüssel, egal ob abgeschlossen oder nicht. Aber Lisa kramt nur kurz in ihrer Hosentasche, zückt dann einen Schlüssel und öffnet die Türe als wäre gar nichts dabei.

„Okay, Lisa, also das musst du mi-"

„Psscht!", macht sie und hält mir die Türe auf, „Los, komm rein."

Auch wenn mir das alles gerade gar nicht passt, tue ich was sie sagt und sie schließt das Zimmer hinter sich ab. Jetzt kann niemand mehr rein ohne Schlüssel, aber wir, beziehungsweise ich, raus.

„Nimm dir einen Stuhl und setz dich.", sagt sie und versucht dabei ernst zu bleiben, aber ich kann ihr die Anspannung anmerken.

Die Stühle werden nach der jeweils letzten Stunde des Tages aufeinander gestapelt, genauso wie die Notenständer. Deshalb haben wir jetzt eine riesige freie Fläche in der Mitte.

„Das passt schon.", erwidere ich, da ich viel lieber stehen bleiben möchte und nichts zwischen mir und dem Ausgang sein soll.

Lisa sagt nichts, sondern geht einfach zu dem großen Fenster, durch die man die Dächer der Stadt sehen kann. Doch ich stehe einfach nur in der Mitte und weiß immer noch nicht so recht, was ich mit der Situation anfangen soll. Aber vermutlich war das alles, was sich Lisa heute zutraut, sodass ich den nächsten Teil übernehmen muss.

„Lisa, warum sind wir hier?", frage ich sie vorsichtig.

Doch ihre einzige Reaktion ist ihr Kopf, der sich jetzt wieder dem Boden vor ihr zugewandt hat.

„Lisa, bitte, was wird das hier?"

Immer noch nichts.

„Dann kann ich ja wieder gehen.", sage ich, obwohl ich das auf keinen Fall wirklich tun würde.

Das waren sie richtigen Worte. Wie aus dem nichts dreht sie sich um und kommt auf mich zu gerannt. Bevor ich weiß, was hier passiert fällt sie mir mit ihren Armen um den Hals und drückt mich fest an sich. Dann höre ich sie weinen.

„L-Lisa?", ist alles was ich gesagt bekomme, denn ansonsten bin ich gerade völlig überfordert.

Nach kurzem Überlegen will ich gerade meine Arme auch um sie legen, doch bei der kleinsten Berührung lässt sie mich sofort los und stößt sich von mir weg.

„Nicht anfassen!", ruft sie laut, doch fällt dann auf ihr Knie und nimmt ihre Hände vors Gesicht.

Ihr Schluchzen wird immer lauter. Ich will sie in den Arm nehmen, ich will sie trösten, aber das scheint sie nicht zu wollen. Also gehe ich ebenfalls in die Knie und beginne auf sie einzureden:

„Hey, Lisa, komm, ist doch nicht so schlimm. Du musst nicht weinen. Bitte hör auf damit."

„Nein!", entgegnet sie mir und setzt sich mit dem Rücken zu mir hin.

Ich ziehe eine Packung Taschentücher aus meiner Hosentasche, die ich wegen meines Heuschnupfen immer dabei habe, und versuche es ihr zu reichen.

„Hier Lisa, nimm."

„Geh weg!...Ich mein nein, bleib! Ach...", ruft sie und greift dann doch danach.

„Bitte.", sage ich, aber im selben Moment schnäuzt sie laut in das Tuch.

Danach steckt sie es ein und scheint sich etwas beruhigt zu haben.

„Geht's wieder?", frage ich sie und sie nickt einmal kurz.

Ich setze mich hinter sie und stelle mich auf ein längeres Gespräch ein. Ich denke, ich lerne sie jetzt endlich richtig kennen.

„Also Lisa, was ist hier los? Und hör bitte auf zu weinen, sonst fang ich auch noch an."

„Ich versuche es ja.", wimmert sie leise.

Sie versucht immer noch sich wieder ganz zu fassen. Mit so einem plötzlichen Gefühlsausbruch haben wir beide wohl nicht gerechnet. Dennoch ist ein positives Zeichen.

„Also?", frage ich ein weiteres Mal.

„Wieso ich?", will sie wissen und dreht sich endlich wieder zu mir um, „Wieso jetzt? Wieso du?"

„Das selbe könnte ich dich fragen, Lisa."

„Jack, richtig? Jack, weißt du was du hier machst? Was du hier mit mir machst?"

"Nein Lisa, ich weiß gar nichts. Also bitte hör auf mir Fragen zu stellen und rede lieber."

„Ich bin aber besser im Fragen als im Antworten..."

„Lisa, gibt es eine logische Erklärung warum ich von dir geträumt habe?"

Sie überlegt kurz. Wenn es um diesen Traum geht scheint sie sich am unsichersten zu sein.

„Können wir diese Frage ans Ende verschieben?"

„Na gut.", antworte ich langsam genervt von ihren Ausweichmanövern, „Warum wirst du so ausgegrenzt?"

Wieder muss sie kurz überlegen. Sie senkt den Kopf und murmelt etwas vor sich hin, aber ich kann es nicht verstehen.

„Was Lisa? Du musst lauter reden."

„Weil ich ein Freak bin! Ein Psycho, ein Monster, eine Gestörte!", brüllt sie mich plötzlich an, dass ich sogar einen kurzen Schreck bekomme.

„Wer sagt denn sowas? Wie kommst du darauf?"

„Niemand! Aber es reicht, wenn ich das sage..."

„Jetzt hör mir Mal zu Lisa. Du bist ein wunderbares Mädchen, du bist hübsch und intelligent. Du hast meinen Grund dich so runter zu reden."

„Du kennst mich doch überhaupt nicht.", ruft sie und beginnt wieder zu weinen.

Ich rutsche etwas näher zu ihr her und beginne ihre Schulter zu streicheln. Explosionsartig wie schon zuvor springt sie mir wieder um den Hals. Dieses Mädchen scheint wirklich nicht zu wissen was es will.

„Warum... warum sagst du sowas zu mir? Warum behandelst du mich so... nett?", glaube ich durch die Tränen hindurch zu verstehen.

„Weil du es verdient hast. Und weil du mich irgendwie faszinierst."

Das löst nochmal mehr Emotionen bei ihr aus. Sie drückt mich noch fester an sich und wehrt sich jetzt auch nicht mehr gegen meine Arme. Fast fünf Minuten sitzen wir Arm in Arm auf dem Boden des Musikzimmers. Keine Viertelstunde mehr bis der Unterricht wieder los geht. Ich brauche einfach noch mehr Antworten.

"Lisa, warum habe ich von dir geträumt?", frage ich ein letztes Mal und werde nichts anderes als die Antwort akzeptieren.

„Nein Jack, wenn ich dir das erzähle, dann wirst du auch so von mir denken wie ich."

„Ich verspreche dir, das werde ich nicht."

„Versprich nichts, was du nicht sicher halten kannst."

„Selbst wenn du mir jetzt sagst, dass du eigentlich ein Junge bist, würde das nichts an der Situation jetzt und an meiner Meinung von dir ändern."

Lisa muss kurz lachen und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Ich kann in die Träume von anderen Menschen eindringen.", sagt sie plötzlich so todernst, dass es einfach nur ein Spaß sein muss.

„Sehr witzig, Lisa. Hast du mich irgendwie heimlich hypnotisiert und mir das irgendwie anders suggeriert? Ich hab mich versucht da ein wenig schlau zu machen, aber-"

„Jack, ich bin in deinen Traum eingedrungen wie schon in tausend andere zuvor. Ich bin ein Freak, ein Psycho, ein Monster."

Ich löse mich von ihr, damit ich ihr in die Augen schauen kann.

"Lisa, veräppele mich hier nicht."

„Jack, ich meine das ernst. Aber ich kann verstehen, wenn du mir nicht glaubst."

„Dann beweis es mir."

„Soll ich dir von deinem Traum mit mir erzählen?"

„Nein, das wäre zu einfach. Nimm was anderes."

„Hmm.", sie muss nachdenken.

Jetzt denkt sie sich irgendeine kuriose Lüge aus. Was sie erzählt kann einfach nicht wahr sein, auch wenn es zugegeben recht plausible klingt.

„Stopp Lisa, beantworte mir erst ein paar andere Fragen.", sie darf sich keine Lüge zurechtlegen.

„Wie du meinst."

„Warum trägst du immer eine Kapuze?"

„Eigentlich, damit man mich nicht erkennt. Hat bei dir aber zum Glück nicht geklappt?"

„Zeig mir deine Haare."

„Nein?"

„Warum nicht?

„Weil die genauso Psycho sind wie ich?"

„Rote Haare sind Psycho?"

„Das hier ist Psycho!", sagt sie und zieht sich dann doch die Kapuze vom Kopf.

Das leuchtende Rot trifft meine Augen und blendet sie fast. Sie hat recht, die sind nicht normal.

„Warum färbst du sie dann so?"

„Das ist das Problem, das geht nicht..."

„Wie das geht nicht?"

„Auf den scheiß Dingern hält keine Farbe, die bleiben immer so leuchtend rot."

„Aber das ist doch nicht normal? So eine Farbe gibt es nicht bei natürlichen Haaren!"

„Meine Rede. Oder so Ähnlich. Psycho halt."

„Wie bist du letztens aus dem Stillarbeitsraum geflohen, wenn ich doch vor der Tür stand?"

„Erinnerst du dich an Frau Trauf? Die Lehrerin, die jeder geliebt hat, aber ich gehasst habe?"

„Ob du sie nicht mochtest weiß ich nicht, aber meine Lieblingslehrerin war sie."

„Dann weißt du auch noch wie sie plötzlich gegangen ist?"

„Klar, sie sagte uns, sie würde an eine andere Schule wechseln. Nur verstand das keiner, weil alle sie eigentlich mochten."

„Sie wurde rausgeworfen."

„Mach dich nicht lächerlich, sie war eine tolle Lehrerin und auch bei den Kollegen geschätzt."

Lisa kramt kurz in ihrer Hosentasche herum, zieht dann ein Schlüsselbund heraus und hebt es mir vors Gesicht.

„Ja, und weiter?"

„Das ist ihres. Sie hat es verloren und ich habe es gefunden indem ich in ihrem Traum eindrang."

„Wenn sie wusste wo sie es verloren hat, warum hat sie es dann nicht selbst gefunden?"

"Sie wusste es nicht, nur ihr Unterbewusstsein. Und da dieses beim Traum nun mal aktiv ist, musste ich es nur Fragen. Gefeuert wurde sie dann, weil unser Rektor ja so viel Wert auf Sicherheit legt und so eine Schlampigkeit dann nicht dulden konnte. Dass sie die Schule wechselt hat sie nur erzählt, damit niemand nach den Schlüsseln sucht."

Hat sie gerade ihre Traum-Eindringungs-Theorie belegt? Es gab wirklich Gerüchte über einen verlorenen Schlüssel bei Frau Trauf. Oder war das nur ein Zufall?

„Du glaubst mir immer noch nicht oder? Das sagt zumindest sein Gesichtsausdruck."

„Nicht wirklich, nein."

„Denk doch Mal nach, warum sollte ich dich anlügen? Du bist der erste Mensch seit Jahren, der sich für mich interessiert, dem ich aus irgendeinem Grund vertraue und hier meine größten Geheimnisse offenbare, für die ich mich jahrelang geschämt habe. Das letzte, das ich im Moment will, ist, dass du mich für eine Lügnerin hältst. Ich möchte, dass du mir vertraust, so wie ich dir. Okay?"

Sie hat mich überzeugt. Glaube ich. Aber ich werde erstmal drüber schlafen müssen. Was ist bitte gerade hier passiert?

„Ok.", sage ich leise und schüttele trotzdem nochmal den Kopf.

Dann klingelt es endlich zum Ende der Mittagspause. Lisa steht auf und geht zur Tür.

„Jack? Du musst doch sicher auch los?"

„Hä? Was? Ja.", entreißt sie mich plötzlich aus meinen Gedanken.

Ich richte mich auf und gehe aus dem Zimmer. Lisa folgt mir und schließt wieder hinter sich mit dem Schlüssel von Frau Trauf ab. Ganz langsam fügen sich die Puzzleteile zusammen.

„Sorry Lisa, ich muss da nochmal drüber schlafen. Wir reden morgen wieder, in Ordnung?"

„Geht klar.", sagt sie mit einem breiten Lächeln im Gesicht.

„Gut, bis dann.", erwidere ich und gehe die Treppen hinunter.

„Jack!", ruft mir Lisa plötzlich hinterher.

Abrupt halte ich an und drehe mich nochmal zu ihr um.

„Kannst du..."

„Jaa?", frage ich nach, da sie wieder mitten im Satz gestoppt hat.

„Kannst du, also wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mich nochmal ... umarmen?", sagt sie ganz schüchtern und traut sich dabei nicht, mich anzuschauen.

Ohne zu antworten gehe ich dir paar Treppenstufen nochmal hinauf und drücke sie so fest, wie es vermutlich noch nie jemand zuvor getan hat. Und auch sie erwidert die Umarmung so stark sie kann.

„Danke", flüstert sie mir ins Ohr.

„Nein, ich danke dir."

Freitag, 07:27 Uhr

Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie nochmal in meinen Traum kommt, um es mir endgültig zu beweisen. Aber da ich mich an nichts erinnern kann, gab es vielleicht gar keinen Traum, denn sie hätte Besuchen können. Ich wünschte, ich hätte gestern nach der Schule nochmal mit ihr reden können. Mir sind im Nachmittagsunterricht noch so viele weitere Fragen eingefallen, die ich ihr noch stellen muss, aber ich habe noch keine andere Möglichkeit als hier in der Schule mit ihr Kontakt aufzunehmen. Vielleicht frage ich sie nach ihrer Handynummer. Ich glaube, habe eins in ihrer Hosentasche erkennen können. Aber das ist vermutlich zu früh, oder? Wir sollten erst richtige Freun- will sie, dass wir Freunde werden? Es hat sich schon so angehört. Nachfragen wäre komisch, also muss ich es einfach annehmen.

Mein Bus kommt endlich an der Haltestelle vor der Schule an. Doch schon hier merke ich, dass etwas nicht normal ist. Viel mehr Schüler als sonst stehen nämlich noch hier rum, statt sich rüber zur Schule zu begeben. Und ihre Handysucht scheint heute ihren Höhepunkt zu haben, da wirklich jeder auf seinem Smartphones rumtippt.

Ich steige aus und gehe in Richtung der Schule. Schon von weitem erkenne ich, dass sich eine große Menge dort versammelt hat. Was da wohl los ist? Für Abi-Streich ist es noch zu früh und Hitzefrei wird es heute auch nicht geben, vor allem nicht morgens. Etwas abseits des Menschenhaufens sehe ich Lisa an den Zaun des angrenzenden Grundstücks lehnen. Sie schaut zu mir, als würde sie mich schon erwarten. Ich sollte mich beeilen.

„Lisa, was ist hier los?", sage ich als außer Atem bei ihr ankomme.

Sie sagt nichts und deutet nur in Richtung des Schulhofs. Sie wirkt geschockt. An den Fassaden der Schulgebäude sehe ich das Blaulicht der Streifenwagen. Auch einen Krankenwagen kann ich durch die Menge hindurch erkennen. Und ein Absperrband.

„Lisa, was ist da vorne los? Wenn du es weißt, dann sag es mir bitte!"

In mir macht sich plötzlich ein ganz schlechtes Gefühl breit. Irgendwas sagt mir, dass das da hinter dem Band auch mich betrifft.

„Nun sag schon! Was haben die da hinten gefunden?", bitte ich Lisa ein weiteres Mal.

„Eine Leiche.", antwortet sie.

Ende Kapitel 1.


© Chads

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